Derzeit kann man kein Fachmagazin aufschlagen, auf ausgewiesenen Fachseiten im Web stöbern, oder persönlich an Fachtagungen teilnehmen, ohne über das Thema Künstliche Intelligenz zu „stolpern“. Viele sog. Expert:innen haben KI offensichtlich bereits mit der Muttermilch aufgesogen und leben mehr in der künstlichen als in der realen Welt.

Können wir das Thema bitte wieder etwas „erden“? Natürlich ist KI ein sehr wichtiges Thema und wird die Arbeitsweisen und Innovationsprozesse der Zukunft maßgeblich mitbestimmen. Aber in welchen Unternehmen hat KI denn die Pilot- und Experimentierphase hinter sich gelassen und spielt eine nennenswerte Rolle im Tagesgeschäft?
Welche Auswirkungen mit Blick auf Zeit, Qualität, Kosten, Mitarbeiterzufriedenheit und Produktivität können denn nachgewiesen werden?

Dieser Beitrag ist der Versuch, hierzu einen kleinen Beitrag zu leisten und ich freue mich beim Schreiben bereits auf Ihre Kommentare und Anwendungsfälle.

Was ist Wunschdenken, was Realität?

McKinsey publizierte am 30. Mai dieses Jahres eine Studie und titelte: Die Einführung von GenKI schießt in die Höhe und beginnt, Wert zu schaffen. Hier einige Details:

  • 65 Prozent der in der Studie Befragten gaben offensichtlich an, dass ihre Unternehmen regelmäßig generative KI einsetzen – fast doppelt so viel wie in der vorherigen Umfrage vom Juli 2023.
  • Die durchschnittliche Organisation, die KI einsetzt, tut dies in zwei Funktionen, am häufigsten in Marketing und Vertrieb sowie in der Produkt- und Serviceentwicklung.
  • Die Umfrage zeigt, dass die Nutzung von KI in allen Regionen zunimmt, wobei die größten Zuwächse im asiatisch-pazifischen Raum und in China zu verzeichnen sind.
  • Nach Branchen betrachtet verzeichnen die Befragten, die in der Energie- und Materialwirtschaft sowie in den freien Berufen tätig sind, den größten Anstieg bei der Nutzung von KI.
  • Unternehmen sehen am häufigsten sinnvolle Kostensenkungen durch den Einsatz generativer KI im Personalwesen und Umsatzsteigerungen im Lieferkettenmanagement.
  • Der Einsatz von analytischer KI führt in den meisten Fällen zu Kostensenkungen im Servicebereich und zu Umsatzsteigerungen in Marketing und Vertrieb.

Spencer Stuart publizierte am 2. Juli dieses Jahres eine Studie und titelte: Für viele Unternehmen ist Kultur wichtiger als KI. Auch hierzu einige Details:

  • Bei den befragten CEOs und Aufsichtsratsmitgliedern stehen Themen ganz oben auf der Maßnahmenliste, die eher nach innen gerichtet sind: Unternehmenskultur (75 Prozent), Mitarbeiterthemen (69 Prozent), sowie Umwelt- und Regulatorik-Fragen (59 Prozent).
  • KI mit 40 Prozent und Maßnahmen im Rahmen der weltpolitischen Unsicherheit mit 28 Prozent spielen den Befragungsergebnissen zufolge nur eine nachgeordnete Rolle.
  • Nur 38 Prozent der CEOs und 42 Prozent der Aufsichtsratsmitglieder sehen KI als eine der Prioritäten, die sie konkret adressieren.
  • Weibliche Führungskräfte zeigen dabei tendenziell mehr Interesse an KI als ihre männlichen Kollegen und stellen entsprechend mehr Mitarbeitende mit KI-spezifischer Expertise ein.

Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.

Wo spielt KI im Tagesgeschäft bereits eine Rolle?

Im Januar 2019 habe ich Anwendungsfälle von Deutsche Telekom und Unilever vorgestellt. In diesem Beitrag skizziere ich kurz einige aktuelle:

Die BASF – Agriculture Products (AP) – hat Microsoft PowerApps entwickelt, um Geschäftsprozesse mit geringem Aufwand zu automatisieren. Cloud Flows und Desktop Flows kommen dabei zum Einsatz, Daten werden visualisiert und in die Microsoft Power Platform mit Power BI und Power Automate integriert.

Der DFB nutzt die SAP-KI Joule. Mit einer App kommen die Datenanalysen direkt auf die Smartphones der Trainer und Spieler. Hier einige Beispiele:

  • Bei einem Ballverlust stellt sich die Frage: Soll ich jetzt Gegenpressing spielen? KI kann anhand der Live-Daten und auch der Analyse vergangener Spiele diese Frage beantworten.
  • Das sogenannte Limb-Tracking kann dafür eingesetzt werden, um die Ermüdung jedes einzelnen Spielers abzuschätzen oder auch technische Fertigkeiten etwa bei der Ballannahme zu beurteilen.
  • KI wird auch bei der Trainings-Steuerung genutzt. Abhängig von der individuellen Belastung des Spielers kann das Training angepasst werden.

Natürlich darf IBM als KI-Entwickler nicht fehlen. Vor einem Jahr präsentierte IBM seine erste kommerzielle KI namens WatsonX. Ihr Algorithmus wird anhand unternehmensinterner Daten trainiert.

Mastercard hat konkrete Aktionen für Mitarbeitende in fünf Bereichen gestartet: KI als …

  • Karrierecoach,
  • Ratgeber für das Wohlbefinden,
  • Workflow-Assistent,
  • Co-Pilot und
  • Partner bei der Personalplanung.

Grundlage dieser Aktionen ist die Kultur, „The Mastercard Way“.

Wolters Kluver hat GPT in Kombination mit dem Global Career Framework der Organisation genutzt, um die Kernverantwortlichkeiten und Fähigkeiten für jede Rolle im Unternehmen (Stellenprofil) zu erfassen. Die positiven Auswirkungen eines KI-gesteuerten, kompetenzbasierten Talentmanagementansatzes sind bereits sichtbar.

In seiner Analyse von Unternehmensbeispielen kommt Johannes Sundlo zum Ergebnis: GPTs sind ein hervorragendes Werkzeug für

  • Szenarioplanungen,
  • Prognosen des künftigen Personalbedarfs,
  • Identifizierung von Talentlücken und
  • Entwicklung integrierter Talentstrategien.

Welche Anwendungsfälle möchten Sie noch hinzufügen? Gerne direkt im Kommentar zu diesem Beitrag.

Welche weiteren Praxisbeispiele sind zeitnah zu erwarten?

Die Erkenntnis ist nicht neu, dass wir in Europa vor Verschiebungen in der Nachfrage nach Arbeitskräften, die durch KI und Automatisierung angetrieben werden, stehen. Die Nachfrage nach Arbeitskräften in MINT-Berufen, im Gesundheitswesen und in anderen hochqualifizierten Berufen wird steigen, während die Nachfrage nach Berufen wie Büroangestellten, Mitarbeitenden in der Produktion und im Kundendienst zurückgehen wird.

Die Unternehmen scheinen sich bewusst zu sein, dass Vorarbeiten in puncto Kultur und umfassende Qualifikation notwendig sind, bevor weitere Praxisbeispiele zum Tragen kommen. So wird die Nachfrage nach technologischen, sozialen und emotionalen Fähigkeiten steigen, während sich die Nachfrage nach körperlichen, manuellen und höheren kognitiven Fähigkeiten stabilisieren wird. Das Modell „Future of Work“ des McKinsey Global Institute liefert hierzu interessante Erkenntnisse.

Wir wissen, dass die Rolle der Führungskraft im Zuge dieser Entwicklungen noch anspruchsvoller werden wird. Vier Prioritäten möchte ich gerne hervorheben:

  1. Führungskräfte müssen das Potenzial verstehen, wie KI und GenKI die Arbeit ergänzen und automatisieren können.
  2. Sobald sie das Potenzial der Automatisierungstechnologien verstanden haben, müssen die Führungskräfte die Umstellung auf das Zeitalter der Automatisierung und KI planen; insbesondere strategische Personalplanungen und -verlagerungen.
  3. Um sicherzustellen, dass die richtigen Mitarbeitenden quantitativ und qualitativ zur Verfügung stehen, sollten Führungskräfte das 6-B-Modell der strategischen Personalplanung in einem angespannten Markt wenigstens für ausgewählte Belegschaftssegmente anwenden.
  4. Führungskräfte müssen auch ihre eigene Bildungsreise zu Automatisierungstechnologien fortsetzen, um ihren Beitrag während der Transformation leisten zu können.

Lesenswert ist in diesem Zusammenhang der Leitfaden für Führungskräfte zur generativen KI von Gartner.

Die HR-Funktion ist gut beraten, dabei nicht von innen nach außen vorzugehen, sondern die Unternehmensstrategie als Ausgangspunkt zu wählen und HR-Maßnahmen daran auszurichten. Hierbei möchte ich ein Thema besonders hervorheben, das auch in den 17 UN-Nachhaltigkeitszielen eine wichtige Rolle spielt: DEI. In einem Beitrag im Harvard Business Review skizziert Andy Baldwin drei Möglichkeiten, DEI in die KI-Strategie zu integrieren.

Im Einklang mit dem Hype Cycle für KI von Gartner erwarte ich zeitnah also eher Ernüchterung im Thema KI und GenKI, anstatt weiterer Euphorie. Die überwiegende Mehrzahl der Unternehmen muss meiner Einschätzung nach zuerst ihre Hausaufgaben erledigen, bevor weitere Anwendungsfälle in der Breite zu erwarten sind. Was denken Sie?

Fazit

Wesentliche Voraussetzungen für KI-Anwendungsfälle sind meiner Meinung nach: die Unternehmenskultur, Buy-In seitens der Belegschaft, angemessene Governance, sowie Schulungen und Trainings.

Fünf Hauptkompetenzen scheinen laut BSG für eine Vorreiterrolle bei generativer KI notwendig zu sein:

  • klare Verbindung zur Unternehmensleistung,
  • moderne Technologieinfrastruktur,
  • starke Datenkompetenzen,
  • Unterstützung durch die Führungsebene und
  • ein verantwortungsvoller Umgang mit KI.

Generative KI bietet entlang HR-Prozessen unterschiedlich gute Möglichkeiten. Folgende Prozesse stehen laut Kienbaum im Vordergrund:

  • Management-Prozesse: HR-Controlling & -Analyse, HR-Data-Analytics & Innovation.
  • Support-Prozesse: HR-Berichtswesen, Entgeltabrechnung & Zeitwirtschaft, HR-IT & HR-Prozessmanagement; Personalbetreuung & -administration.
  • Kernprozesse: Sourcing, Recruiting & Onboarding; Personalentwicklung & Kompetenzmanagement, Performance Management; Vergütungsmanagement & Grading.